02: Du bist bereits reich
Als Leser aus der deutschen Mittelschicht mit einem Beruf im Büro, Handwerk oder Dienstleistung, bist Du bereits ein wohlhabender Mensch. Dass es sich nicht so anfühlt, liegt an der Funktionsweise unseres Gehirns, welches eine gigantische Datenflut mittels Linearisierung von Daten, die eigentlich exponentieller Natur sind, Abstrahierung und Generalisierung in griffige Konzepte überführt. Die Psychologie tut anschließend ihr Übriges, um unsere Wahrnehmung auszugestalten.
Als Biologe nähere ich mich der Thematik gerne aus der Sicht der Natur. Bitte erlaubt mir diesen Exkurs, der nach meiner Auffassung die vorherrschende Sichtweise auf die eigenen Finanzen erklären kann.
Unsere Sinnesorgane nehmen Daten aus der Außenwelt wahr, d.h. physikalische Reize wie Licht und Schall, und übersetzen sie in Nervensignale. Dabei findet eine Erste Codierung statt. Bestimmte Frequenzen des aufgenommenen Lichtes oder Schall ober- oder unterhalb bestimmter Schwellen werden vollständig ausgeblendet, der Frequenzverlauf dazwischen wird geglättet und linearisiert. Physikalische Parameter von exponentiellem Charakter werden auf diese Weise flach. Eine Lichtquelle empfinden wir als etwa doppelt so hell, wenn sie physikalisch gesehen die zehnfache Helligkeit aufweist. Ein doppelt so laut empfundener Ton ist in Wahrheit 1000-Mal so laut. Logarithmische Skalen zur Pegelmessung tragen diesem Umstand Rechnung. Sinnesorgane verfahren sowohl bei Intensität (Helligkeit, Lautstärke) als auch bei der Frequenz (Farbe, Tonhöhe) in dieser Weise (Anmerkung: Die Darstellung ist vereinfacht. Wen Details interessieren, der googelt das „Weber-Fechner-Gesetz“ und die „Gammakorrektur“).
Diese Funktionsweise hat den Vorteil, dass wir sehr feine Unterschiede wahrnehmen können, sehr große Unterschiede aber verflachen, bis wir uns auf einen neuen Wahrnehmungsbereich eingestellt haben (wie z.B. bei der Helligkeitsadaption unseres Auges).
Nach der Reizverarbeitung durch die Sinnesorgane folgt die Interpretation unseres Gehirns. Sinnesreize wollen mit Bedeutung gefüllt werden. Hierzu gleicht unser Gehirn die empfangenen Muster mit Inhalten aus unserer Datenbank ab und entscheidet welche Inhalte das Bewusstsein erreichen. Vertrautes und besonders Unerwartetes passieren den Filter, alles andere wird ausgeblendet. Im Anschluss wird es durch unsere Psychologie mit emotionaler Bedeutung versehen.
Ich übertrage dieses Wahrnehmungsprinzip nun auf unsere Sicht auf unsere Finanzen. Ich beschreibe das in der Ich-Perspektive und – Achtung – mit Ironie.
„Was mein Einkommen und meinen Lebensstandard betrifft, schiele ich gerne nach rechts und links auf Menschen, mit denen ich mich vergleichen kann. Neidvoll blicke ich auch etwas verstohlen „nach oben“, seltener „nach unten“. Die da unten sollten doch nur mal was Ordentliches arbeiten, dann würde es ihnen besser gehen. Ich habe mein Geld ja auch mit harter Arbeit mehr als verdient. Die da oben haben sich ihren Reichtum sicherlich ergaunert oder beuten andere zu ihrem Vorteil aus.“
Feine Unterschiede in meiner Einkommensklasse nehme ich intensiv und differenziert wahr. Größere Abstände nach oben oder unten verschwinden in Generalisierungen und Pauschalisierungen. Meine Wahrnehmung rückt mich und meine Lebensumstände in den Mittelpunkt des Universums und macht meine Situation zum Maß aller Dinge.
Mir ist bewusst geworden, dass ich Opfer meines Wahrnehmungsfilters, der Generalisierungsfunktion meines Gehirns und meiner Psychologie geworden bin. Ich versuche, aus diesem Rahmen herauszutreten und mich in eine ganz neue Perspektive zu setzen.
Reisen kann helfen, in andere Kulturen. Wie leben die Menschen auf diesem Planeten? Die meisten haben weniger. Viele leben „trotzdem“ gut.
Lesen kann helfen. Mehr Einblick in das Leben der Menschen in anderen Lebensumständen und anderen Schichten. Die meisten sind zufriedener und glücklicher als wir im westlichen Mitteleuropa.
Ein schöner Startpunkt für eine neue und globale Perspektive, die das Potenzial hat, meinen begrenzten Wahrnehmungsfilter zu sprengen, ist der Rechner auf http://www.globalrichlist.com/.
Der Rechner sagt mir, ich gehöre zum reichsten Prozent dieses Planeten. Deutlich mehr als 99% der Menschen verdienen weniger. Da fühle ich mich gleich besser.
Ich stelle mir vor, wie der fleißige Arbeiter in … (will hier jetzt kein Land nennen) von meinem Einkommen träumt. Er ist sich sicher: Mit diesem Einkommen könnte er ALLES erreichen! Er wäre unfassbar reich! Nichts könnte ihn stoppen! Hätte er so viel Geld, käme eine Geldlawine ins Rollen, die nicht mehr enden würde!
Ich meinerseits denke über ihn: Wie kann man nur mit so wenig Geld überleben? Ja klar, in seinem Land kostet ja auch alles nichts. Das ist mit Deutschland nicht vergleichbar. Halt. Nein. Das ist die Denkweise in meiner alten Filterblase. Aus der bin ich doch herausgetreten.
Ich habe ja jetzt begriffen: Mein Einkommen macht mich zu einem der reichsten Menschen des Planeten. Es muss an etwas anderem liegen, dass das Geld knapp ist… Hält mich da etwas gefangen, aus dem ich auch heraustreten kann…?
Lieber Leser, du bist bereits reich!
Sieben Milliarden Menschen beneiden Dich um Deinen Luxus. Sieben Milliarden Menschen träumen von Deinem Reichtum. Sieben Milliarden Menschen sind sich sicher: Mit Deinem Reichtum ist alles möglich.
Und ich bin da auch sicher.
In diesem Sinne. Alles Liebe, Andreas